Immer diese Änderungen! So weitreichend in so kurzer Zeit hat sich kaum je eine Kirche entwickelt. Für manche lautet die Reaktion darauf: Ich erkenne meine Kirche nicht mehr wieder. Andere freuen sich darüber. Wie umgehen damit?
In der Tat: Zwischen dem früheren Lehrbuch „Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben“ und dem heutigen „Katechismus der Neuapostolischen Kirche in Fragen und Antworten“ liegen Welten der Entwicklung. Früher beschrieb sich die Neuapostolische Kirche als die Kirche Christi, heute als Teil davon. Früher war der mutwillig versäumte Gottesdienst eine schwere Sünde, heute wird der regelmäßige Gottesdienstbesuch dringend empfohlen, weil er dem Christen Gutes bringt. Viele solcher Gegensatzpaare können aufgezählt werden. Die Verständnisse von Kirche, Amt und Sakrament haben Entwicklungen durchlaufen – und das alles innerhalb der letzten 30 Jahre mit zunehmender Geschwindigkeit.
Nicht alle Glaubensgeschwister finden das gut. Seelsorger werden in den Gesprächen mit ihnen mit Zweifel und Unverständnis konfrontiert und haben Mühe, eine gute, auf die Person zugeschnittene Antwort zu geben.
Es gibt nur eine Wahrheit
Gelegentlich hören sie, dass Glaubensgeschwister solche Lehrentwicklungen nicht völlig mittragen wollen und in einzelnen Fällen so weit gehen, die Lehrautorität des Apostolats infrage zu stellen. Sie drücken es aus, indem sie zum Beispiel sagen: Das ist nicht mehr meine Kirche! Das Spannungsverhältnis zwischen früheren und gegenwärtigen Lehraussagen und Predigtinhalten ist ihnen zu groß. Die ehemals göttliche Wahrheit von früher könne doch durch die heute als richtig erkannte Wahrheit nicht abgelöst werden. Kann es denn eine Wahrheit geben, die sich selbst widerspricht? Haben die Apostel früher eine falsche Lehre verkündet? Man hätte gelernt und sei davon überzeugt, dass die Predigt das Wort Gottes sei, dass sie der geoffenbarte Wille Gottes und somit die Wahrheit sei. Es könne schlichtweg nicht zwei Wahrheiten geben. Gott wandle sich nicht. Wahrheit sei Wahrheit, und die könne heute keine andere sein als früher.
Bei solchen Aussagen geht es nicht um ein gewisses Unbehagen gegenüber Neuem. Hier geht es um einen tiefen inneren Konflikt, der seinen Ursprung in einem dogmatischen Wahrheitsbegriff bezogen auf Lehrinhalte hat.
Unser Wissen ist Stückwerk
Wie also ist der Begriff „Wahrheit“ in Bezug auf das Wirken Gottes durch den Heiligen Geist zu verstehen? Ein Blick in die Heilige Schrift gibt Aufschluss:
„Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er‘s nehmen und euch verkündigen.“ (Johannes 16,12–14)
Damit sagt der Herr seinen Aposteln klipp und klar, dass ihnen noch nicht die ganze Wahrheit bekannt sei. Sie werde ihnen erst nach und nach offengelegt, da sie es „jetzt“ nicht ertragen könnten. Neue Aspekte der einen Wahrheit würden also in Zukunft dazukommen, vermittelt durch den Heiligen Geist. Der werde schrittweise in die ganze Wahrheit leiten.
Das erinnert an Apostel Paulus, wenn er vom Stückwerk des menschlichen Wissens spricht:
„Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ (1. Korinther 13,10–12)
Menschliche Erkenntnisse sind und bleiben bis zuletzt „Stückwerk“. Glaubende sind auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen-Gewordenen, von der einfachen Erkenntnis zur völligen Erkenntnis Gottes. Erst wenn der Herr wiedergekommen ist, hört das Stückwerk auf.
Nach diesen Aussagen in der Heiligen Schrift kann die Lehre weder statisch noch dogmatisch zu verstehen sein, sondern bedarf der Weiterentwicklung durch die Lenkung des Heiligen Geistes. Stammapostel Jean-Luc Schneider findet in seiner Predigt am 16. Mai 2021 in Wiesbaden/Deutschland klare Worte dazu: Die Gläubigen müssten lernen, das Wesentliche von den persönlichen Einstellungen zu trennen. Wesentlich sei Jesus Christus und sein Evangelium. Eigene Ansichten seien nicht heilsrelevant.
In unserer nächsten Folge der Serie über die Seelsorge beschäftigen wir uns mit einem Begriff, der oft missverstanden wird: „Eigenverantwortung – ein Begriff und viele Missverständnisse“.
Foto: Romolo Tavani