Sie ist eine Frau und ursprünglich Nichtjüdin – und trotzdem wird sie im Stammbaum Jesu namentlich erwähnt: Hätte Rut nicht mit den Konventionen gebrochen, wäre alles anders gekommen.
„Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will auch ich begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.“ Aus diesen Worten aus der weisheitlichen Lehrerzählung, die nach mir benannt ist, ist 3000 Jahre später ein beliebter Bibelvers für Ehepaare entstanden. Dabei richte ich dieses Versprechen nicht an meinen Ehemann – obwohl ich zweimal verheiratet war – sondern an meine Schwiegermutter.
Frauenleben zur Zeit der Richter
Mein erster Mann hieß Machlon und war Israelit. Ich lernte ihn kennen, weil er mit seiner Mutter Noomi, seinem Vater Elimelech und seinem Bruder Kiljon als Wirtschaftsflüchtling in mein Mutterland Moab kam. In ihrer Heimatstadt Bethlehem, die zwar mit „Brothausen“ übersetzt werden kann, herrschte eine Hungersnot und in Moab ging es ihnen besser. Trotzdem waren Orpa, die Kiljon geheiratet hatte, und ich bald verwitwet.
Noomi wollte zurück in ihr Heimatland. Als Frau ohne Mann und ohne Söhne hatte man in der anarchischen Zeit der Richter in meinem Land nicht viele Rechte und war völlig schutzlos, auch in Israel; doch dort hatte sie wenigstens Bekannte. Um uns davon zu überzeugen, in Moab bei unserem Mutterhaus zu bleiben und dort neu zu heiraten, sprach sie scherzhaft davon, dass sie zu alt sei um neue Söhne zu bekommen und wenn, würde es zu lange dauern, bis diese alt genug seien, um Orpa und mich zu versorgen. Da lernte ich das israelische Gesetz des Levirats kennen.
Es kommt aus 5. Mose 25,5–10 und besagt, dass der Schwager die Witwe seines Bruders heiraten soll, wenn dieser keinen Sohn hinterlassen hat. Der erstgeborene Sohn aus dieser Ehe soll als der Nachkomme des Verstorbenen gelten, um dessen Andenken zu bewahren.
Die Armut ist groß
Orpa gab nach, doch ich gab meiner Schwiegermutter den berühmten Treuespruch. Ihr und ihrem Gott, den ich noch kaum kannte, aber zu dem ich schon großes Vertrauen hatte. In ihrem Land mussten wir die bittere Armut erfahren – Noomi wollte auch nicht mehr „die Liebliche“ genannt werden, sondern Mara, „die Bittere“. Ich beobachtete die Israeliten und lernte schnell. Zum Beispiel erfuhr ich vom Armenrecht aus verschiedenen Stellen der Tora (2. Mose 22, 20–26; 3. Mose 19,9; 5. Mose 24,19–21), das besagt, dass Armen, Fremden, Witwen und Waisen ein besonderer Schutz Gottes gewährt wird und sie auf dem Feld bei der Ernte Ährenlesen gehen dürfen. Das schlug ich Noomi vor und machte mich sogleich an die Arbeit.
Ich fiel dem Mann, auf dessen Feld ich Nahrung für mich und meine Schwiegermutter zusammenklaubte, sofort auf. Boas war beeindruckt von meinem Fleiß und ihm gefiel mein guter Ruf. Er zeigte es mir, indem er mir mehr gab, als er nach dem Gesetz musste und mich beschützte.
Die Lösung naht
Als ich Noomi davon erzählte, erklärte sie mir das Gesetz des Lösers aus 3. Mose 25,25–28, nach dem der nächste männliche Verwandte den Grundbesitz eines verarmten Israeliten zurückkaufen kann, damit beispielsweise das Feld in der Großfamilie bleibt.
Noomi fasste einen Plan, der auch mir gefiel. Ich blieb auf Boas Feld, bis ich genug für den Winter gesammelt hatte. Nach Abschluss der Ernte wurde alles in der Tenne gelagert und Boas und seine Mitarbeiter übernachteten dort. Hübsch gemacht legte ich mich in der Nacht zu seinen Füßen nieder. Als er aufwachte, sagte ich ihm, dass er einer der Löser sei. Darüber hatte er sich auch schon Gedanken gemacht. Und er hatte wieder Komplimente für mich übrig. Ich ging im Morgengrauen, „ehe einer den andern erkennen konnte“, denn er war um meinen guten Ruf bedacht. Mit noch mehr Gerste ging ich zu Noomi und wartete ab.
Die Geschichte geht gut aus
Später, als er mein Mann war, erzählte mir Boas, dass er den anderen möglichen Löser beim Stadttor getroffen hatte, wo es zu meiner Zeit üblich war, rechtliche Fragen mit den Ältesten als Zeugen zu klären. Zum Glück war der andere zwar daran interessiert, das Grundstück zu lösen, doch er wollte mich nicht heiraten.
So konnten Boas und ich heiraten und er schenkte mir und Noomi einen Sohn, Obed, der Davids Großvater wurde und somit ein Vorfahre Jesu.
43 Männer sind in diesem Stammbaum erwähnt, aber außer mir nur wenige Frauen: Maria, Jesu Mutter, Batseba, die Frau von Uria, die mit David Salomo zeugt und Tamar, die auf einem ungewöhnlichen Weg ihr Recht zum Levirat einfordert. Später wird ein deutscher Theologe über uns Stammmütter von Jesus sagen: „Die jüdische Verheißungsgeschichte würde ohne diese unkonventionell handelnden Frauen zusammenbrechen.“
Eine Geschichte für mehr Menschenfreundlichkeit
Meine Geschichte erzählt eine lebensfreundliche Tora-Auslegung. Den ausländerfeindlichen Gesetzen wie in 5. Mose 23,4–7 wird meine Geschichte als politisches Statement entgegengesetzt. Immerhin ist ja auch David, der König, auf den die ganze Geschichte zuläuft, ein Nachfahre von mir und somit ein König mit ausländischen Wurzeln. In der Tora wird das Verbot, Moabiter in die Gemeinde Israels aufzunehmen, damit begründet, dass mein Muttervolk die Menschen des Volkes Israel auf den Weg durch die Wüste nicht mit Wasser versorgte. Noomi und ihre Familie kamen als Flüchtende zu uns und wurden gut versorgt und integriert. Mit der Heirat mit Boas und der Geburt von Obed war auch ich vollständig in das Volk Israel integriert.
Ich bin Rut, mein Name bedeutet auch „Freundin“.
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