Siegestanz einer bedeutenden Frau

Sie war viel mehr als eine anonyme Nebenfigur in der Bibel – Mirjam, die tanzende Prophetin, wird bis heute in der jüdischen Tradition positiv und als eine bedeutungsvolle Frau wahrgenommen. Und das, obwohl sie zu ihrer Zeit in einer Männerwelt lebte.

Etwa dreizehnhundert Jahre vor Christus: Der ägyptische Pharao und sein Militär verfolgen Mose und das Volk Israel – am Schilfmeer kommt es zur Entscheidung, Israel erobert die Freiheit und macht sich auf den ersehnten Heimweg nach Jerusalem. So groß ist die Sehnsucht, so gewaltig die inneren Empfindungen, dass Mirjam eine Pauke in die Hand nimmt und ein Lied singt – ihr Lied: „Lasst uns dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt“ (2. Mose 15,21). Dieser Text ist uralt und nur klein an Gestalt, doch sprechen die Worte Kulturgeschichte! Mirjam singt Israel aus der Seele, der Weg zurück nach Jerusalem ist wichtig, existenziell für die Menschen. Es ist Loblied auf den einen, wahren Gott!

Mirjam, ein Geschenk Gottes

Und seine Vorsängerin ist als ältere Schwester von Mose und Aaron eine anerkannte Leitfigur. Dass sie überhaupt in der Schrift erwähnt wird, zeugt von ihrer außergewöhnlichen Begabung: Sie wird eine Prophetin genannt. Schon dadurch besitzt sie eine herausragende Stellung und durch ihr offenbar kompetentes Wesen ein gutes Ansehen.

Für gewöhnlich hatten Frauen in der Welt des Orients eher eine untergeordnete Rolle. Die Gesellschaft war patriarchal und diskriminierte nach Geschlecht, Alter, Geld, Religion, Ethnie und vor allem nach dem Rechtsstatus von frei und unfrei. Der Freie hatte Personenrechte, der Unfreie war Sklave und damit eine Handelsware. Mirjam war Prophetin, ein Geschenk Gottes an sein Volk und damit beinah unantastbar. Als Prophetin fühlt sie sich unmittelbar von Gottes Geist berührt. Sie muss tun, was zu tun ist: Ihr Loblied auf Gott erinnert die Menschen, was wirklich zu loben und zu rühmen sei: nicht die eigene Kraft, sondern Gott allein!

Mirjam, die unbequeme Prophetin

Mirjam hat auch eine andere Seite. Daher auch ihr Name, der aus dem Hebräischen abgeleitet so viel wie „die Widerspenstige“ bedeutet. Prophetinnen wie sie geben sich nicht mit einem status quo zufrieden, nur weil die Mehrheit keine Einwände hat. Den Finger in die Wunde zu legen, ist ihre Aufgabe.

„Da redeten Mirjam und Aaron gegen Mose um seiner Frau willen, der Kuschiterin, die er genommen hatte. Er hatte sich nämlich eine kuschitische Frau genommen“, berichten die Anfangsverse im 4. Buch Mose. Beide Geschwister verbünden sich gegen Mose. Der hatte nämlich eine Ausländerin geheiratet, was in jener Zeit ein ziemlicher Affront gewesen sein muss. Dagegen sträubt sich Mirjam, gepaart mit dem ehrgeizigen Gedanken, an der Führungsrolle von Mose teilhaben zu wollen. Sie ist schließlich wer!

Doch es kommt anders. Die Prophetin vergisst, dass Gott die Maßstäbe setzt, nicht seine Dienerin. Prophetisches ist oft gepaart mit Kritik, mit dem Aufruf zur Veränderung. Das allerdings gibt Raum für Unsicherheit, Unberechenbarkeit und Ungewissheit. Propheten sind unbequem!

Sieben Tage muss sie Buße tun, vom Aussatz befallen und außerhalb der Zeltlager. Eine deftige Strafe für die Vorsängerin. Doch sie schafft es zurück, akzeptiert Gottes Entscheidung. Mose betet für sie: „Ach, Gott, heile sie!“ Sie bleibt die Frau, auf die man nicht verzichten möchte. Am Ende steht die Solidarität mit Gottes Prophetin.

Mirjam, die Frau mit eigener Meinung

Von Mirjam wird augenscheinlich wenig in der Bibel berichtet. Was aber gesagt wird, reicht, um sie als eine hochgestellte Persönlichkeit zu erkennen. Von ihr wird sogar berichtet, wo sie begraben wurde. Offenbar also ging man davon aus, dass ihr Grab zu einer Pilgerstätte werden könnte. Nachträglich betrachtet, ist sie eine unverzichtbare Figur im steten Auf und Ab des Volkes Israel:

Als Prophetin ist sie von Gott gesandt – als Schwester von Mose und Aaron greift sie aktiv in die Führungsrolle ein – als von Gott in die Schranken Gewiesene wird sie ein Beispiel für Gehorsam und Leidensfähigkeit. Ihre Geschichte erinnert uns daran, dass es Männer und Frauen waren, die das Volk in die Freiheit führten.

Und ihr gleichnamiges Lied macht sie unsterblich. Es hat all die Jahrhunderte überdauert, zeugt von Kraft und Mut. Eine intelligente, eigenwillige und glaubensstarke Frau schickt mit ihrem Loblied auf Gott, den wahrhaftigen Herrscher Himmels und der Erde, ihr Echo bis in unsere Zeit. Sie singt und tanzt für uns.


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Datum:

Peter Johanning
13.07.2020
Bibelkunde