Sie ist laut, sie ist mutig und sie ist eifersüchtig. Die Prophetin ist eine wichtige Figur in der Geschichte des Auszugs aus Ägypten. Und Gott weist sie in ihre Schranken. Am Ende hält er sie aber fest wie eine Tochter.
Ausgelassen tanzte ich mit den anderen Frauen meines Volkes zu dem Lied, das Mose zuerst angestimmt hatte. Warum habe ich diese wichtige Rolle als Vorsängerin und Vortänzerin übernommen? Weil ich eine Prophetin bin.
Prophetinnen
Auch Frauen hatten zu meiner Zeit diese wichtige Rolle oft inne. Wenn Gott seinen Geist ausgießt, dann macht er keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Prophetinnen und Propheten sind viel mehr als Zukunftsvorhersager. Wir sind von Gott oder seinem Geist zu Sprechern gemacht. Wir vermitteln zwischen Gott und den Menschen. Wir verkünden dem Volk oder Einzelnen aus dem Volk oder Herrschenden, was Gott ihnen in bestimmten Situationen zu sagen hat: Mal ist es eine Mahnung, mal Trost, mal drohen wir mit einem Gericht und mal sagen wir auch die Zukunft voraus.
Was genau ich als Prophetin getan habe, ist in der Bibel nicht überliefert. Aber spätere Bibelausleger sehen eben diesen Tanz, den ich den Frauen nach dem Auszug aus Ägypten vormachte, als ekstatische Erscheinung: Der Geist Gottes ergreift dann von den Menschen Besitz und sie geraten in Verzückung. Das war für Prophetinnen und Propheten ganz normal in der Frühzeit Israels.
Wenn Frauen den Retter retten
Eine Schwester Moses ist es, die dem späteren Anführer des Volkes das Leben rettet. In der Tradition werde ich mit dieser namenlos gebliebenen älteren Schwester Moses gleichgesetzt. Ich beobachtete meinen kleinen Bruder, wie er da, wenige Monate alt, in dem Kästchen auf dem Nil herumtrieb und war sofort zur Stelle, als die Tochter des Pharaos ihn aus dem Wasser zog. Ich holte dann meine Mutter, damit sie ihr eigenes Kind die ersten Jahre aufziehen konnte, bis er alt genug war, von der Pharaonentochter adoptiert zu werden. Der spätere Retter wird durch den Mut der Frauen, die ihn umgeben, gerettet.
Streit unter Geschwistern
Als wir unter der Führung meines Bruders aus Ägypten flohen, erlebten wir Gottes Hilfe auf eine fantastische Art und Weise. Das Meer teilte sich vor unseren Füßen als wir schon glaubten, unsere Feinde hätten uns eingeholt und es schloss sich wieder, als wir trockenen Fußes hindurchgegangen waren. Dieses Erleben deutete ich theologisch. Es wurde uns deutlich, dass Gott an seiner Verheißung festhält und sich nicht durch Feinde oder Unzulänglichkeiten seines Volkes abbringen lässt.
Lange Zeit mussten wir dann durch die Wüste stapfen. Und Mose bestimmte über alles! Wärt ihr da nicht auch neidisch und eifersüchtig auf euren jüngeren Bruder geworden, der eine herausragende Rolle im Volk einnahm? An meiner Stelle hätten sicher viele etwas Großes sein wollen und die Zeit dafür gesehen, sich selbst an der Macht zu beteiligen. Das Volk war unruhig geworden, außerdem waren wir gegen Moses nicht-israelitische Frau. Ich überzeugte Aaron, gemeinsam mit mir Mose in seiner Stellung herauszufordern. „Redet der Herr denn allein durch Mose?“, fragte ich (4. Mose 12,2). „Redet er nicht auch durch uns?“
Gottes Eingreifen
Augenblicklich griff Gott ein und rief uns drei Geschwister zur Stiftshütte. Und er machte deutlich: „Wenn unter euch ein Prophet ist, dann will ich, der Herr, mich ihm kundmachen in Gesichten oder mit ihm reden in Träumen. Aber so steht es nicht mit meinem Knecht Mose; ihm ist mein ganzes Haus anvertraut. Von Mund zu Mund rede ich mit ihm, offen und nicht in dunklen Worten, und er sieht den Herrn in seiner Gestalt“ (4. Mose 12,6–8).
Das hatte gesessen. Jetzt war uns klar: Mose ist wichtiger als wir. Aber trotzdem glichen die Worte Gottes mehr die eines Vaters, der sein Kind erzieht, und waren von Liebe geprägt. Immerhin hatte er uns ja gewürdigt und mit uns gesprochen, ehe er mich mit Aussatz bestrafte. Gott ist so gut. Ich nahm die Strafe an, aber meine Brüder setzten sich für mich ein, dass ich möglichst schnell geheilt würde. Sieben Tage wurde ich trotzdem ausgeschlossen, aber die Israeliten warteten so lange, bis ich wieder angenommen wurde. Ich hatte meine Lektion gelernt. Nie mehr stellte ich die Autorität meines Bruders in Frage.
Ich heiße Mirjam. Ich bin Prophetin. Mein Name wird noch viel wichtiger werden – in seiner lateinischen Form: Maria.
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