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Eingesperrt und doch frei

Oktober 12, 2020

Author: Dinara Ganzer

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„Das Einzige, was in mir weiterlebt, sind mein Herz, meine Seele und meine Augen“, berichtet Philippe, der seit 34 Jahren am Locked-In-Syndrom leidet. Einblick in seinen Glauben, seine Freiheiten und sein ganz persönliches Bonus-Programm.

Als die Behörden aufgrund der Corona-Pandemie Ausgangssperren oder zumindest -beschränkungen erließen, war das für viele ein tiefer Eingriff in ihre persönliche Freiheit: Ohne triftigen Grund dürfen viele ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Der Franzose und Glaubensbruder Philippe Leidecker kennt dieses Gefühl, eingesperrt zu sein, sehr gut. Nur ist sein Gefängnis nicht seine Wohnung, sondern sein eigener Körper. Seit einem Autounfall vor 34 Jahren leidet er am „Locked-In-Syndrom“ (LIS). Locked-In bedeutet so viel wie „eingesperrt“. Sein Körper ist vollständig gelähmt. Bewegen kann er lediglich seine Augen. Sein Geist aber ist hellwach, er ist voller Gottvertrauen und hat viel Humor.

Gelähmt, aber voller Gottvertrauen

Zweieinhalb Wochen nach dem Unfall erwacht Philippe aus dem Koma. „Ich kam aus dem Nirgendwo, wo ich mich von Licht umgeben sehr geborgen fühlte,“ beschreibt Philippe Jahre später seinen Komazustand. „Ich war mit tiefem Frieden erfüllt. Trotz meiner Situation war ich überglücklich. Der Herr zeigte mir durch ein Zeichen, dass er mir zur Seite stand: Die erste Person, die ich an meinem Bett sah, war unser damaliger Bezirksälteste, der heutige Bezirksapostelhelfer i. R. Henri Higelin.“

Als er aufwacht, kann Philippe sehen und hören, spürt alles. Er kann wahrnehmen, was um ihn herum passiert – aber er kann sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht selbstständig atmen und essen. „Ich kam mir vor wie eine Mumie, wie ein lebendiger Toter. Das Einzige, was in mir lebte und weiterlebt, sind mein Herz, meine Seele und meine Augen.“ Als ihm die Ärzte das Locked-In-Syndrom erklären, findet er das Wort furchtbar. „Das klang fremd in meinen Ohren. Wie etwas, was mich gar nicht betraf … und doch seither Realität ist.“

Herz, Seele und Augen leben weiter

Als sich der Unfall ereignet, steht Philippe mitten im Leben. Drei Jahre zuvor haben er und Béatrice geheiratet. Gerade erst ist ihr Sohn Jean-Loup zur Welt gekommen. Von Beruf ist er Dreher, in seiner Gemeinde dient er als Diakon und ist Jugendleiter. Die Herzen der jungen Geschwister hat er im Flug erobert. Wo er auch hinkommt, bringt er die Menschen zum Lachen, sorgt für gute Stimmung. Doch hinter dem Spaßvogel verbirgt sich auch ein empfindsamer junger Seelsorger. „Er hatte einen Blick und ein Herz besonders für den Schwächsten unter den Jugendlichen. Alles, was er tat, war von großem Glauben und mit grenzenloser Liebe zu den Jugendlichen erfüllt“, attestiert ihm sein damaliger Bezirksjugendleiter. Entsprechend schockiert ist man auch im Geschwisterkreis, als man von seinem Unfall erfährt, und man beginnt, innigst für den jungen Diakon zu beten. Auch Béatrice vertraut die Sorge um ihren Mann immer wieder Gott an.

Philippe erlernt ein System, mit dem er über die Bewegungen seiner Augen und Lider kommunizieren kann. Zunächst kann er damit Ja/Nein-Fragen beantworten. Während seiner Reha kommt Béatrice auf die Idee, ihm das Alphabet aufzusagen, bis er beim richtigen Buchstaben blinzelt. „Das war revolutionär für Philippe. Er hatte endlich die Möglichkeit, sich mitzuteilen. Das öffnete ungeahnte Horizonte. Er brach aus der Welt des Schweigens aus“, erzählt Béatrice. Eine Zeit lang benutzt er auch ein Computerprogramm, das er mit seinen Augen steuern kann. Doch das macht ihn schnell müde und er bevorzugt bis heute die Kommunikation über das analoge System: „Ich spreche lieber direkt mit Menschen, als über ein Gerät“, sagt er.

Stärke durch Familie und Glaube

Besondere Kraft zieht Philippe aus dem Zusammensein mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. „Die Freude, die ich bei unseren Gesprächen empfinde, ist unbeschreiblich. Sie sind eine Quelle der Kraft. Es ist, als ob ein winziges Fenster aufgeht, das Licht in meine innere Zitadelle hereinlässt.“ Nur eines bedauert er: „Ich kann sie nicht umarmen; das zu akzeptieren, fällt mir unheimlich schwer.“

Man darf nicht dem Irrglauben unterliegen, Philippe führe in der Folgezeit kein aktives Leben. Zeitweise begleitet er eine seiner Alltagsbetreuerinnen, wenn sie in der Pflegeschule ihre Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Während seiner täglichen Routinen hört er gerne Musik: „Den ‚Bolero‘ von Ravel, Bach oder was von Mozart.“ Er schaut fern, lässt sich Bücher vorlesen und diktiert kleine Briefe an Freunde, Amtsträger oder andere Locked-In-Patienten.

Nach einem Herzinfarkt im Jahr 2016 hat sich Philippes Zustand noch einmal verschlechtert. Er ist sehr häufig müde und es fällt ihm schwerer, seine Gedanken auszudrücken. Zu Beginn der Corona-Pandemie machte er deutlich, dass er, sollte er die Krankheit bekommen, nicht in ein Krankenhaus möchte. Die raren Beatmungsgeräte wolle er anderen Patientinnen und Patienten überlassen. Das heiße nicht, dass er deprimiert sei. Er sei lediglich Realist.

Seinen Humor hat er aber nicht verloren: „An Tagen, an denen er in guter Verfassung ist, gelingt es ihm immer noch, zur größten Freude der Menschen um ihn herum, zu scherzen“, berichtet seine Frau. Zu dieser Lebensfreude tragen auch heute wieder die Kleinen bei: Er ist Großvater von Zwillingen, die ganz in seiner Nähe wohnen und ihn regelmäßig besuchen. In Corona-Zeiten kommen sie nicht ins Haus, aber sie winken ihm von draußen zu.

Bonus: Die Video-Gottesdienste

Gleiches gilt für seinen Glauben, der immer noch felsenfest ist. Da entsprang der Corona-Krise für ihn sogar etwas Positives: Er hatte jeden Sonntag die Möglichkeit, einen Livestream-Gottesdienst zu erleben. Normalerweise ist er nur per Telefon zugeschaltet. Das Heilige Abendmahl hat er jedoch sehr vermisst. Gleich am ersten Sonntag, als dies wieder möglich war, besuchte ihn sein Schwager und Priester Yves, um das Sakrament mit ihm zu feiern. Das sei ein ganz besonderer Moment für ihn gewesen, schreibt Béatrice. Die Hostie empfängt er in Wasser aufgelöst über seine Magensonde.

Darauf, die Gottesdienste nicht mehr nur zu hören, sondern auch zu sehen, legt er auch in Zukunft großen Wert. „Es ist richtig, dass die Gemeinschaft über den Bildschirm nicht dieselbe ist wie in Präsenzgottesdiensten, die ich leider nicht mehr erleben kann. Aber diese Gottesdienste über das Internet habe ich als Bonus empfunden. Den Herrn durch seine Knechte in meinem Zimmer zu haben, war für mich außergewöhnlich!“

Hintergrund:

Ausgelöst wird das Locked-In-Syndrom durch eine Schädigung der ventralen Hirnbrücke (Pons), die gemeinsam mit dem Kleinhirn zum Hinterhirn gehört. Das kann verschiedene Ursachen haben. Häufig sind es Schlaganfälle, Hirnblutungen und Schädel-Hirn-Traumata, die zu einem Locked-In-Syndrom führen. Aber auch degenerative Erkrankungen können – wie bei dem 2018 verstorbenen britischen Physiker Stephen Hawking – diese weitgehende Lähmung des Körpers und der Sprache hervorrufen. Erstmals literarisch erwähnt wird die Krankheit in Alexandre Dumas‘ Roman „Der Graf von Monte Christo“ aus dem Jahr 1844. Über die Figur des Noirtier de Villefort, Vater des stellvertretenden Staatsanwalts und Getreuer Napoleon Bonapartes, heißt es dort, nachdem er einen Schlaganfall erlitten hatte: „Er ist sich immer gleich; sein Geist ist vollkommen hell, doch bleibt die Unbeweglichkeit und Stummheit dieselbe.“ In der Folge war die Krankheit lange Zeit als „Monte-Christo-Syndrom“ bekannt. Medizinisch definiert wurde sie erst in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Seitdem trägt sie auch ihren heutigen Namen. Per Definition können Patienten ihre Gliedmaßen nicht bewegen. Auch Sprechen und Schlucken ist nicht möglich, die Ernährung erfolgt über eine Magensonde. Der Verstand und das Bewusstsein sind jedoch unbeeinflusst.

Dieser Artikel erschien in Langfassung zuerst in der Zeitschrift Unsere Familie, Ausgabe 16/2020.

Oktober 12, 2020

Author: Dinara Ganzer

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