Eigentlich wollte Lukas nach Hongkong oder Singapur. Doch dann bekam der 27-Jährige nach seinem Studium zum Ingenieur ein Jobangebot in Shenzhen (China). Wie es sich im bevölkerungsreichsten Land der Welt lebt, erzählte er der Zeitschrift „spirit“.
Das Zoom-Fenster an meinem Rechner leuchtet auf und teilt mir mit: Lukas ist der Sitzung beigetreten. Ich sehe einen jungen Mann mit Kopfhörern, er sitzt in einem Zug. „Ich bin gerade auf dem Weg von der Arbeit nach Hause“, erklärt er mir. Ab und zu stockt der Ton ein wenig – nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Lukas 9 000 Kilometer von mir entfernt ist. Lukas lebt seit eineinhalb Jahren in Shenzhen in der Volksrepublik China.
Superlative
Shenzhen hat mehr als 17 Millionen EinwohnerDie Stadt liegt im südlichen Teil der Provinz Guangdong und grenzt im Süden an Hongkong. Es ist die Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in China. Tragende Säulen der lokalen Wirtschaft sind die Elektronik- und die Telekommunikations-Industrie. Die Dimensionen der Stadt beeindrucken Lukas immer wieder: „Häuser haben hier in der Regel mindestens 20 Stockwerke. Ich selbst wohne im 17. Stock. Innerhalb der Stadt gibt es mehrere 500 bis 600 Meter hohe Berge, und egal, auf welchen ich steige, ich sehe nur ein Häusermeer vor mir.“ Eine Hochhauswüste sei Shenzhen aber nicht, sagt Lukas: „Die Stadt ist sehr grün, es gibt viele Parks.“
Verständigung
In seiner Freizeit reist Lukas so viel wie möglich im Land herum. Diese ist nach europäischen Maßstäben knapp bemessen. „Anfangs hatte ich zehn Urlaubstage im Jahr, inzwischen sind es 17 – je länger man in einer Firma arbeitet, desto mehr Urlaubstage stehen einem zu“, erklärt Lukas. Die Pandemie hat zur Folge, dass er in den letzten Monaten besonders viel vom Land sehen konnte, denn: „die meisten Firmen in der Luftfahrtbranche müssen wegen Corona ihre Produktion herunterfahren. Das ist auch bei uns so, wir arbeiten momentan nur zu 60 Prozent, leider erhalten wir auch nur 60 Prozent unseres Gehalts. Aber die zusätzliche freie Zeit hat mir ermöglicht, mehr zu reisen“, sagt Lukas. Ein absoluter Gewinn für den Globetrotter, denn China hat neben hochmodernen Megacities auch atemberaubende Landschaften und unzählige unterschiedliche Kulturen zu bieten. Unterwegs ist er auf den Google-Übersetzer angewiesen, um sich zu verständigen, denn fließend Chinesisch spricht Lukas nicht. Und auf dem Land sprechen die Menschen kein Englisch, dafür aber in jeder Provinz einen anderen Dialekt.
Zusammenleben
Im Alltag kann sich Lukas gut verständigen. „Um Essen zu bestellen oder dem Taxifahrer zu sagen, wohin er fahren soll, reicht mein Chinesisch“, sagt er. In der Stadt kommt er mit Englisch gut zurecht, das er auch zur Kommunikation mit seinen Freunden nutzt. Wie reagieren die Chinesen auf Ausländer? Hat er schon einmal Diskriminierung erfahren? „Nein“, sagt Lukas, „in Shenzhen sind Ausländer nichts Außergewöhnliches, und wenn wir aus Unkenntnis in ein Fettnäpfchen treten oder einen Fehler machen, sehen die Chinesen gelassen darüber hinweg, weil sie sich denken: Das ist ein Ausländer, der weiß es halt nicht besser.“
Vorzüge und Sehnsüchte
Lukas fühlt sich sehr wohl in China: „Die Menschen sind sehr angenehm und friedlich. Man wird einfach nie angepöbelt, ich erlebe hier kaum Aggressionen im Umgang miteinander.“ Außerdem schätzt er, dass man an jeder Straßenecke lecker essen kann, und den hohen technologischen Standard; der Verkehr läuft fast ausschließlich elektrisch und die Digitalisierung greift in allen Lebensbereichen. „Ich brauche außer meinem Wohnungsschlüssel eigentlich nur mein Handy. Damit kann ich mich ausweisen, bezahlen, alles regeln. Als einer meiner Freunde einen Unfall hatte, wurden ihm alle Unterlagen aufs Handy geschickt, er konnte dort alles Relevante eingeben und dann war die Sache erledigt.“ Wenn er nach Deutschland zu Besuch kommt, fühlt sich Lukas wie auf einer Zeitreise in ein früheres Jahrhundert.
Das letzte Mal ist allerdings schon über ein Jahr her, denn die Corona-Pandemie macht eine solche Reise fast unmöglich. Selbst jetzt, wo Flüge wieder möglich sind, ist Lukas das Risiko zu hoch: „Ich müsste mich vor jedem Flug mindestens dreimal testen lassen, und wenn auf einer Flugroute Covid-Fälle auftauchen, canceln die Chinesen die Flüge sofort, und ich komme vielleicht nicht wieder zurück.“ Daher hat Lukas seine Familie seit langem nur noch per Videocall treffen können.
Da die chinesische Regierung religiösem Leben generell mit Misstrauen begegnet und die Vorschriften zur Religionsausübung sehr strikt sind, ist es bisher in China für neuapostolische Christen nicht möglich, in Gemeinden zum Gottesdienst zusammenzukommen. Deshalb ist Lukas froh, dass es pandemiebedingt ein breites Angebot an Video-Gottesdiensten und -Jugendstunden gibt. „Das hilft mir sehr, auch wenn es die Gemeinschaft und vor allem das Abendmahl nicht ersetzen kann.“ Dessen Bedeutung hat er, gerade weil er es so lange nicht genießen konnte, neu schätzen gelernt: „Ich habe das Heilige Abendmahl sicher vorher zu selbstverständlich genommen, weil es immer da war.“ Lukas hofft auf ein baldiges Ende der Pandemie – damit er seine Familie wiedersehen und wieder Gottesdienste besuchen kann.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift spirit 06/21.