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Die Wahrheit, die sich selbst bezeugt

20 11 2025

Author: Simon Heiniger

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Alle haben „ihre Wahrheit“ – doch das Evangelium sagt: Wahrheit ist eine Person. Jesus, der Weg, die Wahrheit und das Leben.

„Was ist Wahrheit?“ – die Frage des Pilatus klingt wie aus einer hitzigen Kommentarspalte in den sozialen Medien. „Das ist MEINE Wahrheit“, „alternative Fakten“, „Fact-Checks“ – alle reden über Wahrheit, aber meistens sind damit Meinungen, Stimmungen oder Mehrheiten gemeint. Pilatus’ Frage ist erstaunlich modern. Nur dass er nicht ahnte: Die Antwort schaute ihn gerade an. Die Wahrheit steht leibhaftig vor ihm. Er muss sie nicht suchen, er schaut ihr in die Augen. Aber er erkennt sie nicht. Jesus als Wahrheit ist kein „frommer Fakt“, sondern eine Zumutung – gerade, weil diese Wahrheit sich nicht in Argumentationsketten einsortieren lässt. Das ist die Spannung des Evangeliums: Wahrheit ist im Christentum kein abstrakter Begriff, keine perfekte Definition, sondern eine Person. Man kann sie nicht nur für richtig halten – man muss ihr begegnen. Jesus sagt nicht: „Ich erkläre euch die Wahrheit“, sondern: „Ich bin die Wahrheit.“ Wer ihm begegnet, spürt: Bei Jesus geht es nicht vor allem ums Reden, sondern darum, dass Menschen sich verändern.

Wahrheit als Beziehung

Wenn Jesus sich als „Weg, Wahrheit und Leben“ vorstellt, bietet er keinen philosophischen Aufsatz an, sondern eine Beziehung. Wahrheit ist hier nicht das Ergebnis einer Debatte, sondern der Charakter Gottes in Person: treu, verlässlich, durchsichtig. Man kann diese Wahrheit nicht einfach besitzen, indem man die richtigen Sätze unterschreibt; man kann sich von ihr nur finden lassen. Es ist eine Wahrheit, die nicht jedes Spiel mitspielt: Jesus argumentiert nicht auf jedem Spielfeld. Bei Fangfragen (Steuer an den Kaiser, Ehebrecherin, Sabbat) dreht er die Perspektive, stellt Gegenfragen, erzählt Gleichnisse. „Jesus verweigert sich dem Spiel: ‚Wer gewinnt die Debatte?‘ – Er ist nicht Debattierklub, sondern Offenbarung.“ Er liefert keine endlosen Beweisrketten, sondern sagt schlicht: „Komm und folge mir.“ Wer sich auf ihn einlässt, erfährt: Diese Wahrheit ist nicht ein zusätzlicher Baustein im Weltbild, sondern ein Fundament, das trägt – in Schuld und Versagen, in Krankheit und Angst, in Schuldgefühlen und Selbsttäuschungen.

Wahrheit mit Vollmacht

Die Menschen zur Zeit Jesu spüren: Hier ist mehr als kluge Rede. „Er lehrt mit Vollmacht, nicht wie die Schriftgelehrten“, heißt es im Evangelium. Seine Worte sind nie bloß Worte. Er spricht von Vergebung – und vergibt Sünden. Er verkündigt Freiheit – und löst Menschen aus ihren Bindungen. Er redet vom Leben – richtet Kranke und Ausgestoßene auf und macht Tote lebendig. Die Wahrheit, die er ist, bezeugt sich selbst durch ihre Wirkung. Wahrheitsbeweis nicht als Logikaufgabe, sondern als Lebensgeschichte. Jeder, der dabei ist, erlebt diese Kraft – und kann sie bezeugen: „Ich war blind, jetzt sehe ich.“ „Ich war verloren, jetzt bin ich gefunden.“ Jesus führt keine PowerPoint-Präsentation zur Verteidigung seiner Thesen vor. Die Beweisführung sind die Menschen, deren Leben sich verändert. In unseren Gottesdiensten ist das bis heute nicht anders gemeint: Das Evangelium soll nicht nur überzeugen, sondern bewegen.

Ein Spiegel in liebevoller Hand

Dabei bleibt diese Wahrheit zugleich unbequem und befreiend. Jesus ist nicht dazu da, dass man sich in seiner Meinung bestätigt fühlt – er zeigt einem, was wirklich im Herzen ist, wie ein Spiegel, den er vorhält. Er sagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Frei wovon? Von Masken („Ich muss etwas darstellen“), von religiösem Leistungsdruck („Ich muss mir Gottes Liebe verdienen“), von der Angst, falsch zu sein. Christliche Wahrheit ist keine Waffe gegen „die da draußen“, sondern zuerst ein Spiegel für „mich hier drinnen“. Aber dieser Spiegel ist von Liebe gerahmt. Epheser 4,15 spricht davon, „in Liebe die Wahrheit zu tun“. Wahrheit ohne Liebe wird hart. Liebe ohne Wahrheit wird beliebig. In Jesus kommen beide zusammen. Er deckt Schuld auf, um zu heilen, nicht um bloßzustellen. Er sagt zur Ehebrecherin: „Sündige hinfort nicht mehr“ – aber erst, nachdem er sie vor der Steinigung bewahrt hat. So entsteht Freiheit: nicht, weil meine Fehler verharmlost werden, sondern weil ich ihnen mit einem barmherzigen Blick Gottes ins Auge sehen darf.

Die Wahrheit, die durch Menschen spricht

Wenn Jesus seine Jünger aussendet, macht er sie nicht zu Schiedsrichtern über alle Fragen dieser Welt, sondern zu Zeugen: „Ihr sollt meine Zeugen sein.“ Zeugen erklären nicht alles, aber sie können sagen, was sie erlebt haben. Nicht „Ich habe alles verstanden“, sondern „Ich habe etwas erlebt.“ „Wir müssen nicht alle Diskussionen im Netz gewinnen. Aber wir dürfen erzählen, wie diese Wahrheit uns trägt, tröstet, verändert.“ So spricht die Wahrheit Christi bis heute am glaubwürdigsten: durch Menschen, die zugeben, dass sie nicht alles wissen – aber wissen, wem sie vertrauen. Durch Gemeinden, in denen nicht jede Diskussion gewonnen, aber viel Vergebung geübt wird. Durch Christinnen und Christen, die nicht lautstark „die Wahrheit besitzen“, sondern leise, beharrlich von der Wahrheit gehalten werden. In einer Welt voller Meinungen geht es im Glauben weniger darum, die Wahrheit zu definieren, sondern sich von ihr formen zu lassen.

Pilatus’ Frage bleibt im Evangelium unbeantwortet stehen. Jesus legt sie nicht aus, er führt sie weiter: vom Gerichtssaal nach Golgatha und von dort zum leeren Grab.
Die Wahrheit muss nicht schreien – sie ist so sicher in sich, dass sie sogar schweigen kann.
Die Wahrheit erklärt sich nicht in einem Gespräch, sondern auf einem Weg. Wer sich auf diesen Weg mit Christus macht, entdeckt: Die wichtigste Antwort wird nicht gesprochen, sondern erfahren.


Foto: KI-generiert

20 11 2025

Author: Simon Heiniger

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