Rückblick in eine andere Welt

Zerstörtes in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen: Das versucht die neuapostolische Gemeinde Eschwege (Deutschland). Und zwar in und mit ihrem Kirchengebäude, das das wechselhafte Schicksal einer Schwesterreligion miterlebt hat.

Menschen laufen mit Masken durchs Kirchenschiff. Sie geben „Ahs“ und „Ohs“ von sich, stoßen hier und da gegen die Kirchenbänke und scheinen in einer völlig anderen Welt zu sein. Nein, keine Alien-Invasion, sondern Tag der offenen Tür zum hundertjährigen Jubiläum in Eschwege. Zu diesem Zweck liegen VR-Brillen bereit, mit deren Hilfe das Kirchenschiff im 19. und 20. Jahrhundert dreidimensional erkundet werden kann.

Ein Gebäude mit Geschichte

Der Grund für diesen virtuellen Blick in die Geschichte: Die Kirche ist eine ehemalige Synagoge. Der Toraschrein, der Tisch für die Torarolle oder die Frauenempore – mit den VR-Brillen wurde das alles wieder lebendig. Und auch bei Führungen lernten die Besucher der Jubiläumstages viel über die Geschichte des jüdischen Gotteshauses.

1835 war die Synagoge nach dem Entwurf des kurhessischen Landbaumeisters Johann Friedrich Matthei als zweigeschossiger klassizistischer Putzbau errichtet worden. Ihr Mauerwerk besteht aus Ziegelsteinen. Sie hat ein sogenanntes Walmdach, das nicht nur auf zwei, sondern auf alle vier Seiten geneigte Flächen hat. Im Zentrum ragt ein Gebäudeteil hervor, der Mittelrisalit: Vier Säulen säumen den Eingang und die Fenster zieren bunte Glasmalereien. 1838 weihte der Eschweger Kreisrabbiner die Synagoge.

1890 fällt ein Stein in das Fenster der Synagoge. Weitere Steine folgen, die Glasmalereien zerbersten. Judenhass macht sich auch in Eschwege breit. Am 7. November 1938 schlagen Unbekannte erneut die Fenster der Synagoge ein. Und in der Reichspogromnacht vom 8. auf den 9. November zerstört ein Mob die Inneneinrichtung. Dem Niederbrennen entging das Gotteshaus nur aus einem Grund, wissen Ortskundige: Auf dem eng bebauten Schulberg hätte das Feuer schnell auf andere Häuser übergreifen können.

Aus der Synagoge wird eine Kirche

So überlebte die Synagoge zwar den Krieg. Doch die jüdische Gemeinde, die es schon seit dem 14. Jahrhundert in Eschwege gab, brauchte sie nicht mehr. Viele Eschweger Juden überlebten den Holocaust nicht oder flohen ins Ausland. Nach dem Krieg fanden sich in Eschwege noch KZ-Überlebende zusammen und nutzten das Gebäude auf dem Schulberg noch eine Weile. Doch sie wollten nicht bleiben. Sie suchten einen Käufer für das Gebäude. Besonders wichtig war ihnen dabei, dass die Synagoge ein Gotteshaus bleiben konnte.

Interesse zeigte unter anderem die neuapostolische Gemeinde Eschwege. Diese suchte schon länger nach einem eigenen Gotteshaus. 1920 wurden die ersten Glaubensgeschwister der Neuapostolischen Kirche in Eschwege aufgenommen. In ihrer Wohnung fanden ein Jahr später – vor 100 Jahren – die ersten Gottesdienste in Eschwege statt. Doch die Gläubigen wurden immer zahlreicher, sodass sie einen größeren Raum anmieten mussten. 1926, die Gemeinde zählte inzwischen etwa 70 Glaubensgeschwister, wurde auch dieser Raum zu klein. Die Gemeinde wich auf einen größeren Mietraum aus. Doch der Wunsch nach einem eigenen Gebäude wuchs.

Sowohl die neuapostolische, als auch die jüdische Gemeinde zeigten sich zufrieden mit Verkauf und Übernahme des Gebäudes. Ehrenamtlich machten die Kirchenmitglieder aus der Synagoge eine Kirche. Dazu brauchte es Kirchenbänke, einen Altar, eine Orgel, Gesangbücher, eine christliche Bibel…

Gedenken in Gemeinschaft

Die neuapostolischen Kirchenmitglieder und die Eschweger Bevölkerung gedenken oft der jüdischen Gemeinde ihres Ortes. An der ehemaligen Synagoge gibt es eine Gedenktafel und gegenüber findet man das „Denkmal der Gewalt“, eine abstrakte Skulptur, die an die Grausamkeiten an Juden erinnern soll. Weitere Gedenktafeln und Stolpersteine wurden über die Jahre zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in der Stadt ausgeteilt.

Das Verhältnis der neuapostolischen Gemeinde mit den jüdischen Vertretern in der Region ist freundschaftlich. Für den Tag der offenen Tür zum 100-jährigen Jubiläum lieh der Verein „Freunde und Freundinnen des jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis“ der neuapostolischen Gemeinde die VR-Brillen, mit denen die Besucher einen plastischen Blick in die Vergangenheit des Gebäudes werfen konnten. Viele Sponsoren machten das Projekt möglich und auch die neuapostolische Gemeinde Eschwege trug einen finanziellen Teil bei.

Das Ergebnis fand viel Zustimmung. Dr. Martin Arnold, Vorsitzender des Vereins Freunde und Freundinnen jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis sagte: „Wir haben mit der virtuellen Rekonstruktion die Destruktion der Nazis wieder rückgängig gemacht.“

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