Versucht, finstere Zeiten zu überstehen

Die Neuapostolische Kirche zur Nazi-Zeit: Neuere Forschungen widerlegen bisherige Fehlannahmen und Standardfloskeln. Das sagen ausgewiesene Experten, die die Kirche schon lange kritisch begleiten – vier Reaktionen auf zwei aktuelle Veröffentlichungen.

Das Parade-Beispiel kommt ausgerechnet von der Südhalbkugel: Von Australien übers südliche Afrika bis nach Südamerika wirkte Heinrich Franz Schlaphoff ab 1933 als Stammapostelhelfer. Briefe, die er direkt nach Deutschland schickte, klingen schmeichelhaft fürs NS-Regime. Denn die Zensur liest mit. Post, die auf inoffiziellem Weg über die Schweiz läuft, klingt ziemlich anders.

So dokumentiert es Dr. Karl-Peter Krauss. Er war viele Jahre an einer außeruniversitären Forschungseinrichtung tätig und ist seit einigen Jahren Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“. Der promovierte Historiker hat zwei Bücher geschrieben, die in Fachkreisen einiges an Eindruck hinterlassen haben.

Akkurat und sachlich

„Die Mitgliederentwicklung der Neuapostolischen Kirche in der NS-Zeit: Decodierung einer Meistererzählung?“ – So heißt der eher schmale Band aus dem Jahre 2017.

„Das Ergebnis dieser mit aller Akkuratesse des historischen Handwerks geschaffenen Werks widerlegt die bisherige einhellige Auffassung vom Blühen und Wachsen der NAK im Dritten Reich“, erläutert Dr. Kai Funkschmidt von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin.

Ältere Untersuchungen hätten nicht nur an problematischen Quellen gelitten, sondern auch an jeweils einseitigen Interpretationen zum Zweck der Anklage oder Verteidigung, schreibt er in seiner Buchrezension im „Materialdienst“, Ausgabe 06/2018. Ganz anders das neue Buch: „Wohltuend ist der sachliche Ton“ – „eine sehr gute historische Arbeit“.

Ein erster Mosaikstein

Von einer „sorgfältig recherchierten Studie“ und der „umfangreichen Quellenrecherche“ spricht auch Dr. Daniel Lenski im Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim, Ausgabe 06/2018. Er konstatiert ebenfalls die historische „Fehlannahme einer im Nationalsozialismus wachsenden Kirche“ als nachgewiesen.

Seine Rezension sieht das Buch als „einen wichtigen Mosaikstein in der Aufarbeitung neuapostolischer Geschichte“ – dem aber noch weitere folgen sollten.

Das umfassendere Bild

Tatsächlich legte Karl-Peter Krauss im Jahr 2020 ein weiteres, deutlich umfassenderes Werk vor: „Inszenierte Loyalitäten? Die Neuapostolische Kirche in der NS-Zeit.“ Das Buch zeichne sich aus durch „die Vielfalt der Methoden der Forschung und Ergebnispräsentation“, „die große Zahl herangezogener Archivalien aus staatlichen, kommunalen und kirchlichen Archiven“ und „die Vielzahl der bearbeiteten Aspekte“. Das befindet Dr. Lothar Weiß im Jahrbuch 2020 des Vereins für Freikirchenforschung, Münster/Westfalen.

Sein Fazit: Die Arbeit „könnte manche Standardfloskel zur NAK in künftigen Veröffentlichungen vermeiden helfen.“

Kommt keiner dran vorbei

Die „erstaunliche Fülle an Material“ werde „umsichtig und differenziert gedeutet“, ergänzt Dr. Andreas Fincke in der Zeitschrift für Religion und Weltanschauung, Ausgabe 2-2021: Der Verfasser „entwirft das Bild einer kleinen Kirche, die in einer starken Naherwartung lebt und im Kern unpolitisch ist bzw. sein möchte. Daher ist sie auf die Herausforderungen durch den totalen Staat nicht oder nicht gut vorbereitet. Wie andere Kirchen auch versucht sie durch Anpassung, Lavieren und ,inszenierte Loyalitäten‘ die finstere Zeit zu überstehen.“

Die vorliegende Publikation schließe eine große Lücke, heißt es in der Rezension weiter: „Abgesehen von einigen kleineren Veröffentlichungen gab es bisher keine überzeugende Untersuchung zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK) in der NS-Zeit.“ Jetzt aber schon: „Auf längere Zeit wird keine Darstellung der NAK an diesem Buch vorbeikommen.“

Im Internet werde „mit gewisser Polemik“ darauf hingewiesen, dass der Verfasser ein Amt in der NAK bekleidet und die Geschichts-AG leitet. Für Dr. Fincke ist klar: „An der Sache ändert das nichts. Die wissenschaftliche Diskussion um historische Vorgänge wird mit Argumenten ausgetragen und nicht mit Verweisen darauf, welchen Glauben ein Autor hat.“

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Andreas Rother
18.08.2022
Medien