Leise Worte, große Wirkung: Aufbruch in eine neue Epoche
Verbannt vom Tisch des Herrn, ausgegrenzt vom Gemeinschaftsmahl: So was gab‘s bis Mitte der 1980er Jahre. Doch dann kam Stammapostel Hans Urwyler. Vor 30 Jahren wurde er zur Ruhe gesetzt: ein Rückblick auf sein Wirken.
Der Bann traf Paare, die ohne Trauschein oder in Scheidung lebten, ebenso wie Menschen, die sich zur ihrer homosexuellen Orientierung bekannten: Sie hörten mindestens mal die Warnung, nicht selten aber auch das Verbot, am Heiligen Abendmahl teilzunehmen. So wurden sie ausgeschlossen von jenem Sakrament, das Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus und Überwinderkräfte vermitteln sollte.
„Jeder für sich selbst verantwortlich“
Sechs Seiten lang war das Schreiben, das gegen diese Praxis argumentierte, diverse Bibelstellen anführte und Stammapostel-Aussagen zitierte. „Vor Gott gilt kein Ansehen der Person. Vielmehr sollen alle, die das wollen, Erlösung und Ruhe für ihre Seele empfangen“, fasste das Papier zusammen, das 1986 unter neuapostolischen Amtsträgern zirkulierte und sogar am Altar verlesen wurde. Entscheidend sei die innere Haltung, mit dem der Mensch an den Altar gehe. Und die kenne allein Gott.
„So ist die Verantwortung über die Teilnahme der Geschwister am Heiligen Abendmahl nicht dem Stammapostel, den Aposteln und Amtsträgern zu übertragen; wir können über die Würdigkeit und Unwürdigkeit der Geschwister nicht entscheiden“, hieß es schließlich. „Vielmehr ist jeder einzelne für sich selbst verantwortlich.“
Der Beginn einer Entwicklung
Es war der Kirchenleiter selbst, der diese Worte schrieb und damit eine Kulturrevolution in Gang setzte. Die Zeiten neigten sich dem Ende zu, in denen Seelsorger weit ins Privatleben der Kirchenmitglieder hineinregulierten: von der Gesichtsbehaarung (Bart) über die Freizeitgestaltung (Kino, Kirmes, Karneval) bis hin zur Wohnungsausstattung (Fernseher). Was jetzt aufzog, das war die Epoche der „Eigenverantwortung“.
Eingeläutet hatte jenes neue Zeitalter ein gewisser Hans Samuel Urwyler aus der Schweiz. Am 20. Februar 1925 als erster von drei Söhnen seiner neuapostolischen Eltern geboren, diplomierter Automobiltechniker, später selbständiger Kaufmann. Ab 1949 als Amtsträger tätig, 1976 zum (Bezirks-)Apostel ordiniert und 1978 – nach dem plötzlichen Tod von Ernst Streckeisen, seines Vorgängers im Amts des Bezirks- und Stammapostels – zum Kirchenleiter gewählt.
Weitblickend und ordnend
Nicht nur mit dem Prinzip „Eigenverantwortung“ stellte sich Stammapostel Urwyler den Fragen der Zeit: „Gegenwartsfragen“ hieß eine Arbeitsgruppe, die er 1987 ins Leben rief. Erste Themen: AIDS, Homosexualität, Depression. Und auch die Video-Übertragung von Gottesdiensten gehen auf seinen Auftrag zurück. Die Idee hatte er 1983 von einer Amerika-Reise mitgebracht. Ebenfalls in den 1980er ließ er die Öffentlichkeitsarbeit systematisieren und mit international einheitlichen Materialien ausstatten.
Sein Blick ging aber auch in die Vergangenheit und weit in die Zukunft. So regte er an, auf die Glaubensgeschwister in anderen apostolischen Gemeinschaften zuzugehen – ein Impuls, der Jahrzehnte später zu Versöhnungserklärungen führte. Auch strukturelle Überlegungen stellte er an. Davon zeugen seine Notizen: Sei es zur Schaffung der Gebietskirche Westdeutschland oder zum Amtsverständnis. „Auch unsere Vorgänger haben für besondere Verhältnisse außergewöhnliche Lösungen gefunden“, schrieb er dazu einmal in der Kirchenzeitschrift „Wächterstimme“.
Ein Mann der leisen Worte
Rund 1,5 Millionen Mitglieder zählte die Neuapostolische Kirche beim Amtsantritt dieses Stammapostels. 4,5 Millionen waren es bei der Amtsübergabe an seinen Nachfolger. 1987 hatte Hans Urwyler einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich nur schwer erholte. Am 3. Mai 1988 trat er in den Ruhestand, nachdem er den neuen Stammapostel ordiniert hatte. Richard Fehr trat sein Amt am 22. Mai offiziell an.
Nach einem zweiten Schlaganfall starb Hans Urwyler 1994 im Alter von 69 Jahren. Seine Kirche behält ihn in Erinnerung als einen Mann der leisen, eindringlichen Worte. Und als einen Mann, der Wort hielt: „Ich möchte allen Seelen aus den vielen Völkern und Nationen, aus den mancherlei Sprachen und Zungen, im Hinblick auf den Tag der nahen Ersten Auferstehung eine Hilfe zur Vollendung sein.“